Kolumne
Tango aus der Tiefe
EINBLICKE IN DIE TANGOSZENE: TEIL 9 DER REIHE "IN LOVE WITH TANGO" VON LEA MARTIN
An Corona ist nichts Gutes. Deshalb zögere ich, von positiven Nebeneffekten der Vorsichtsmaßnahmen zu sprechen. Und doch gibt es sie. In meinem Leben. Und um mich herum. Was den Tango angeht, ist vor allem anhaltend beeindruckend, mit welch hohem Verantwortungsbewusstsein und unglaublicher Kreativität alle Tango-Profis die für sie besonders belastende Situation stemmen. Was mich betrifft, freue ich mich, erstmals nicht mehr erklären zu müssen, warum ich unbedingt mit (nur) einem Tanzpartner üben möchte. Es versteht sich plötzlich von selbst. Corona eben. Dabei hat in meinem Fall Corona nichts damit zu tun. Ich wollte schon vor Corona nur mit einem Tanzpartner üben. Fand sich nur keiner. Vielleicht ist mein Ehrgeiz einfach zu groß. Ich will mich tänzerisch entwickeln, und wie, wenn nicht zu zweit, soll das in einem Paartanz gehen? Jeden Abend einen Kurs mit jemand anderem zu machen, erinnert mich an das Schnupperangebot einer Musikschule, wo nacheinander verschiedene Instrumente ausprobiert werden können. Das Ausprobieren der Vielfalt dient der Vorbereitung auf die Entscheidung, ob man Flöte, Gitarre, Geige, Schlagzeug oder Klavier spielen möchte. Wer sich entschieden hat, ein bestimmtes Instrument zu lernen, muss sich auf genau dieses eine konzentrieren.
Wer Tango lernen will, betrachtet gern die Musik als engsten Verbündeten. Doch dieser Schein trügt. Auch wenn man Technik allein üben kann (und muss), das Tanzen beginnt zu zweit. It takes two to tango. Dies »two« ist weit weniger austauschbar, als Milongas hoffen lassen mögen, wo man von Umarmung zu Umarmung treibt, im seligen Rausch, die schönen Momente seien endlos reproduzierbar. Wir sind gewohnt, an die Reproduzierbarkeit zu glauben, wie die Wegwerfgesellschaft es mit ihrer schillernden Werbung vorgaukelt, die unser Unterbewusstes (und damit auch unser Handeln) prägt. Wir jagen nach Momenten, und müssen immer weiter weg, um die fiebrige Nervosität unserer Jagd weniger zu spüren. Buenos Aires als Geburtsort des Tango wird hierbei zu einer Metapher, die für das Unvergängliche steht, das nicht erreicht - und daher auch nicht weggeworfen - werden kann. Wir brauchen diesen äußeren Anker, um nicht zu realisieren, dass keine noch so aufregende Tangoreise, keine noch so berauschende Milonga, kein Unterricht bei noch so famosen Maestros, den Moment ersetzt, wenn der Tango, durch alle Unzugänglichkeiten hindurch, einfach da ist. Es ist nicht wichtig, mit den »besten« Tänzern (oder Tänzerinnen) zu tanzen. Es ist auch nicht wichtig, mit möglichst vielen zu tanzen. Die schönsten Tangomomente entstehen wie auf einer Insel, inmitten eines Meeres, das beruhigend rauscht, unabhängig von der Umgebung. Unabhängig auch vom Niveau des jeweiligen Tanzpartners, der Tanzpartnerin. Nicht aber unabhängig von dem konkreten Menschen, mit dem man ihn teilt. Ich hatte berührende Tänze mit blutigen Anfängern, die sich mit unvergleichlicher Andacht in den Tango begeben haben, und eher enttäuschende Tänze mit Profis. Es gibt viele TänzerInnen, die verausgaben sich nicht unterhalb ihres Niveaus. Mir ist das Niveau eines Tänzers egal. Mich interessiert seine Haltung.
Wer Tango erleben will, muss nicht in die Ferne fliegen. Von Hamburg über Leipzig, Dresden bis Freiburg gibt es auch außerhalb von Berlin und Potsdam nicht nur aufregende Tangoorte in Deutschland, sondern auch das europäische Ausland bietet reizvolle Möglichkeiten, ob in Polen, an der Seine oder in Rom. Um Tango zu tanzen, braucht es allerdings noch nicht mal eine Milonga. Es reichen ein einziger Mann, eine einzige Frau. (Oder zwei Frauen, zwei Männer.) Die Bewegungen jedes einzelnen Menschen sind ein Universum, das zu entdecken sich lohnt. Ich bin dankbar, einen Corona-Tanzpartner gefunden zu haben, der (nur) mit mir üben will, und neugierig darauf, seine Bewegungen im Zusammenspiel mit meinen zu erleben. Ich freue mich darauf, neu in den Tango einzutauchen und ihn aus der Tiefe zu erforschen, um ihn vierfüßig spielen zu lernen, wie ein Instrument, das eine/r allein nie beherrschen wird. Als festes Team gemeinsam etwas zu lernen, und bei diesem Lernen spielerisch, quasi nebenbei, einen gemeinsamen Tango zu entwickeln, ist eine Möglichkeit, die absurderweise ausgerechnet durch die Corona-Maßnahmen nahegelegt wird.
Dass sich für mich dadurch ein Wunsch erfüllt, ist das Eine. Das viel Wichtigere ist, dass die Tanzschulen aktuell besonders davon profitieren, wenn sich möglichst viele TangotänzerInnen, statt auf durchtanzte Nächte, zumindest vorübergehend auf Training zu zweit konzentrieren.
„Tango aus der Tiefe" aus der Reihe "In Love With Tango". Alle Rechte (Text) bei Lea Martin, Berlin 2020
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