Mit ihren Kolumnen gewährt uns die Berliner Autorin Lea Martin Einblicke in die Tangoszene. Nach der Reihe "Tango Dreams", die inzwischen als Buch erhältlich ist, veröffentlichen wir bei uns mit der Reihe "In Love With Tango" die Fortsetzung. Teil 10 trägt den Titel "Missing Milongas":
Leseprobe:
Schmelzende Musik, innige Paare, weiche Umarmungen. Ausradiert, weg. Die Lücke klafft, und sie tut weh. Die eng abgezirkelten Kursangebote, die in Tangoschulen die Corona-Maßnahmen passieren, machen umso deutlicher, wie sehr alles fehlt, was Tango ausmacht. Offene Arme, neue Begegnungen, freier Kontakt. Berlin ohne Tango ist wie Sommer ohne Baden, wie Kuchen ohne Krümel, wie Fisch ohne Fahrrad. Eine Unmöglichkeit, die nur versteht, wer Tangonächte genossen hat. Die Club- und Partyszene ist das Eine. Laut, schrill und spektakulär folgt sie einem Tempo, das Stress glorifiziert. Tango lebt von Entschleunigung, Konzentration, Fantasie. Die Milongas, die Berlin jede Nacht mit Glitzer überzogen haben, fehlen so sehr, dass es weh tut. An der Spree leuchten nachts keine Lichterketten. Der Auszug des Tangoloft aus der Gerichtstraße mutet an wie das Ende einer Ära, die Freiheit für selbstverständlich hielt. Immer wieder drehe ich in Gedanken die Zeit zurück, bis vor Corona, tauche innerlich ein in das Bad aus Musik, Tanz, Kerzen, leisem Gläserklirren, das so vertraut war, als könne es niemals verschwinden. Jede Milonga war ein Fest, auf dem das Leben gefeiert wurde. Die Milongas zu vermissen, ist, wie das Leben zu vermissen. Ein verspieltes, leichtes, geselliges, übermütiges, manchmal auch wehmütiges Leben. Ein Leben, das in en- gem Kontakt mit anderen war, selbst wenn man sich nicht persönlich kannte. Tango-Bekanntschaften sind aus einem besonderen Stoff, weil das Verhältnis von Nähe und Fremdheit ein besonderes ist. Zu wissen, wie sich jemand bewegt, wie er auf Musik reagiert, ohne eine Ahnung von seinen Gedanken, sei- nem sozialen Umfeld, seinem beruflichen Kontext zu haben, schafft ein Ge- fühl besonderer Verbundenheit, das Ähnlichkeit mit der Verbundenheit in religiösen Zusammenhängen hat...
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